Dialog über Barack Obama: "Er wollte reden können."

Die Gymnasiallehrerin Rosemarie aus Hessen traf Barack Obama im April 1992 als er gerade seine Redekunst trainierte. Im Interview erzählt die politisch interessierte Besucherin des damaligen Chicago über ein „merkwürdiges“ Ereignis mit einem offenbar unbeirrbaren Menschen. Das Interview führte Jürgen Felger.
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JF: Hallo Birgit [Birgit Winter = BW], Hallo Andreas [Andreas Ebertz = AE]. Wir wollen uns heute über die personzentrierte Gesprächsführung unterhalten. Um was geht es bei der personzentrierten Gesprächsführung?
Ich war in der Osterwoche 1992 mit mehreren Leuten in den USA. Wir waren zunächst in St. Louis und flogen dann rauf nach Chicago. Wir wohnten in einem Hotel. Es könnte vielleicht das Holiday Inn gewesen sein. Hinter diesem Hotel gab es eine Sackgasse. Ich hörte eines Morgens dort einen Mann reden. Er redete, redete und redete und ich schaute aus dem Fenster. Da war ein junger Mann mit einer kleinen Gruppe. Da das Hotel viele Stockwerke hatte, konnte ich nicht verstehen, um was es ging. Ich entschloss mich dann vielleicht nach 20 Minuten hinunter zu gehen und auch zuzuhören.
Der Mann hatte schon eine Weile geredet, soweit ich von dir weiß.
Es waren etwa 10 bis 15 Leute um ihn herum. Ich zog mich an und ging hinunter. Als ich unten ankam, gesellte ich mich hinzu. Es war vielleicht eine halbe oder dreiviertel Stunde vergangen, es hörten nur noch ganz wenige, vielleicht zwei oder drei Menschen zu. Obama redete einfach weiter. Dann gingen auch die restlichen Leute und ich war alleine mit ihm. Ich fragte mich, was ich jetzt machen soll. Dann bin ich auf ihn zugegangen und habe ihn angesprochen, weil ich merkte, er redete einfach weiter. Es war offensichtlich eine politische Rede, dessen genaue Intention ich zuvor nicht mitbekam. Ich fragte ihn, wer er denn ist und warum er hier allein redet, obwohl niemand mehr da ist. Wir kamen ins Gespräch. Er nannte mir seinen Namen und erzählte mir ganz schnell, was er gemacht habe, wo er her komme. Ich hatte mir auch das Land Kenia gemerkt, weil ich selbst einmal in Kenia war. Da käme sein Vater her. Er sagte, dass er eigentlich gar keinen besonderen Posten in der Gemeinde habe. Er arbeite mit Menschen, die keine Wohnung hätten. Er leiste also eine soziale Arbeit. Das interessierte mich. Außerdem habe ich auch Jura studiert wie er und bin nicht nur Gymnasiallehrerin. Er legte ganz klar seine Ziele dar, was er sich so vorstellt, wenn er mal mehr sei, als das was er zu dieser Zeit offenbar war. [Anm. der Redaktion: Es ging um das Thema Gerechtigkeit.]
Er hat damals schon angekündigt, dass er entsprechend ambitioniert ist.
Ich meine, er sprach auch von einem Buch, das niemand gelesen hätte oder wolle ein Buch schreiben oder er habe Artikel veröffentlicht, die aber niemanden interessiert hätten. Unser Gespräch hat ziemlich lange gedauert und ich empfand es als sehr offen. Das Gespräch ging mir durch den Kopf und ich bin dann aktiv geworden, weil er Kenia und sein Jura-Studium erwähnt hatte. Er sei zuvor Community Organizer, also Sozialarbeiter gewesen. Ich habe ihm zunächst ein bisschen misstraut, weil er sagte, er habe Jura studiert, obwohl er in einer solchen Position in der Gemeinde arbeitete. Aber er hat das plausibel dargestellt und konnte das offen erklären. Er machte auf mich einen Eindruck.

Soweit ich gelesen habe, war er von 1985 bis 1988 Community Organizer. Später hat er Jura studiert und ist dann offensichtlich nach seinem Jurastudium nach Chicago zurückgekehrt, um als Rechtsanwalt anzufangen.
Ich weiß jedenfalls, dass er bei der Behörde gearbeitet hatte, ob das noch 1992 war, vermag ich nicht zu sagen. Es ist mir nur die Diskrepanz zwischen Jura-Studium, ich glaube in Harvard, jedenfalls an einer bekannten Universität und seinem Job bei der Gemeinde aufgefallen. Vielleicht hat er zunächst nichts anderes bekommen. Ich kann mich da nicht mehr genau erinnern. Aber, was mich jedenfalls beeindruckte war, da ich in meinem Leben selbst einige Reden gehalten habe und damals auch mit Politikern unterwegs war, dass er weiter redete, obwohl niemand mehr da war. Er sagte mir auf meine Frage, warum er das tut, er wolle im Reden Ausdauer üben, egal ob man ihm zurufe oder ihn ausbuhe, ob jemand da sei oder nicht, auf jeden Fall wolle er üben, rhetorisch gut zu werden. Das ist ihm, wenn wir es im Nachhinein betrachten, gelungen, wenn ich an die Rede in Berlin und an seine Wahlkampfreden denke.
Er hat damals geübt. Er hat dich fasziniert, weil er dann irgendwann ohne Publikum da stand und als du gegangen bist, hat er weiter geredet.
Als ich gegangen bin, hat er weiter geredet, mit oder ohne Zuhörer. Das hat mir schon zu denken gegeben. Damals konnte ich mir keinen richtigen Reim darauf machen. Ich war ein bisschen skeptisch. Ich ging dann später wieder zurück, dann war er aber allerdings weg. Da ich Sport betrieben hatte und ich heute noch Langstrecken-Schwimmerin bin, hatte ich ihm gesagt: „Sie sind ja dann eine Art Marathon-Läufer im Reden.“
Er hat dir seinen Namen mitgeteilt. Daher weißt du auch, dass es wirklich Barack Obama war.
Ich habe mich später damit befasst. Ich habe nachgesehen, was er gemacht hat, wer er ist und wo er lebt. Er hat mich sehr an Madame Curie erinnert, über die ich in meinen Studien viel gelesen hatte und die Ähnliches in ihren Veröffentlichungen geschrieben hatte, dass man immer weiter machen müsse, auch wenn man keinen Erfolg habe. Das hat er in seinen Reden wohl umgesetzt.
Also sich nicht beirren lassen, seinen Weg gehen. Ich finde deine Geschichte mit Blick auf Rhetorik und Persönlichkeitsentwicklung deswegen interessant, weil der aus verschiedenen Gründen umjubelte Barack Obama nicht nur aus einfachen Verhältnissen stammt, sondern auch als begnadeter Redner bezeichnet wird, obwohl er für mich persönlich kein geborener Redner ist. Er hat, wie ich von dir erfahre, an seiner Redekunst ganz bewusst gearbeitet.
Ich glaube, es war unabhängig vom Zuhörer. Er wollte reden können. Mein Eindruck war, er wollte seine Ideen an den Mann bringen, egal wer da vor ihm steht. Ich bin dann am Karsamstag zurückgeflogen. Ich wusste nicht, wie wichtig dieser Mann eines Tages werden wird. Um das zu tun, was er da machte an diesem kleinen Platz, in diesem Wendehammer, muss man einiges an Selbstbewusstsein mitbringen und man muss auch durch viele Tiefen gegangen sein, sonst schafft man das nicht.
Er hatte also eine hohe Frustrationsschwelle.
Auch wenn ich die Details nicht mehr weiß, er hatte darüber gesprochen, dass er auch durch Tiefen gegangen sei, dass es Selbstbewusstsein brauche, da zu stehen. Er wisse eigentlich gar nicht, ob die Leute denken, er sei ein Verrückter oder ob sie denken, er kann einmal zukünftig ein wichtiger Mensch sein, oder ob sie gar nichts denken. Das erfordere einiges, wie man im Englischen sagt, an „stamina“[= Ausdauer, Durchhaltevermögen]. Er fiel mir auch durch seine Physionomie auf. Das habe ich alles nicht so schnell vergessen.
Mir geht es manchmal so, dass ich Menschen sprechen höre und sogar deren Namen mitbekomme, aber mich nach Jahren nicht mehr erinnern kann.
In der Nähe meines Hotels war ein Museum, in der eine Ausstellung für moderne Kunst oder Fotografie stattfand. Ich habe dann dort ein paar Leute gefragt, ob ihnen der Name etwas sagt. Sie sind kopfschüttelnd weiter gegangen. Dann habe ich den Ausstellungsleiter gefragt, der gerade etwas vorführte, dem der Name Barack Obama auch nicht bekannt war.
In der Vorbereitung auf unser Gespräch bin ich auf Artikel gestoßen, in denen gemutmaßt wurde, dass seine Zeit als Community Organizer prägend für ihn gewesen wäre und er insbesondere gemerkt habe, wo für ihn als Sozialarbeiter Grenzen gewesen seien und er weiter oben ansetzen wolle. Ich schätze, da gab es bei ihm gewisse Frustrationen.
Seine Arbeit als Community Organizer war wohl nicht immer von Erfolg gekrönt. Seine Arbeit hat er auch selbst gewählt. Er hatte mit Schwarzen und Weißen zu tun. Er hat sich offensichtlich nicht nur mit der Creme de la Creme der Menschen beschäftigen wollen.
Obama hat als Community Organizer auch nicht gerade viel verdient, fällt mir dabei ein. Er hatte offensichtlich eine feste Vorstellung, von dem, was er vorhatte. Dann setzte er sein Jura-Studium darauf und kam nach Chicago zurück. In dieser Zeit hast du ihn getroffen. Dir ist die Situation offenbar so außergewöhnlich vorgekommen, dass er dir in Erinnerung geblieben ist.
Jedem, dem ich es erzählt habe, war verwundert, dass er einfach weiter redete, obwohl niemand mehr da war. Das hatte mich auch bewogen, ihn anzusprechen, warum er das macht, sonst wäre ich wohl auch weiter gegangen. Das war das Erstaunliche. Später kam ich zurück nach Deutschland und habe es in einer Schulklasse erzählt und ein paar Schüler kamen auf die Idee das testweise mit mir nachzuspielen.
Sarkastisch sage ich jetzt einmal: Als Lehrer erlebt man vermutlich Ähnliches jeden Tag. In dieser Zeit hat Obama auch seine Frau Michelle kennen gelernt. Da hast du offensichtlich auch etwas davon mitbekommen.
Michelle hat er wohl schon früher gekannt. Ich sah sie dann in einer Anwaltskanzlei die Hände schütteln. Die Hochzeit muss dann kurz darauf stattgefunden haben. [Anm. der Red.: Einer der Begleiter von Rosemarie hatte zufälligerweise einen Termin bei der Anwaltskanzlei]
Was ich über seine Redekunst und seine Zeit in Chicago im Internet gefunden habe, war das Erlernen des „Storytelling“, aber ohne konkrete Hinweise darauf.
Ich fragte Obama, ob er das öfters macht. Er sagte, dass er das hin und wieder mache, wenn er Zeit habe. Es war vormittags. Vielleicht war es Gründonnerstag.
Was lernen wir daraus? Wir haben die Stichworte Übung, Durchhaltevermögen und Frustrationsschwelle erwähnt.
Man darf nicht sofort einknicken, auch wenn es nicht unmittelbar Applaus gibt. Üben, üben, üben. Die Amerikaner sagen „Learning by doing“ oder „Trial and error“. Meine Mutter sagte häufig, wenn sich jemand entweder im positiven oder im negativen Sinn ausgesprochen pefekt zeigte: “Das ist lange geübt.”